Der natürliche Zins und die EZB
In einer Kolumne im Handelsblatt beruft sich Peter Bofinger auf den natürlichen Zins, um für Zinssenkungen zu argumentieren. Das Konzept geht auf den schwedischen Ökonomen Knut Wicksell zurück und ist umstritten, da es fundamentale Schwächen aufweist.
Im Handelsblatt erklärt Peter Bofinger den natürlichen Zins:
„Eine wichtige Orientierungsgröße ist der sogenannte natürliche Zins. Dabei handelt es sich um ein theoretisches Konzept, das von dem schwedischen Nationalökonomen Knut Wicksell (1851 bis 1926) entwickelt wurde. Er erkannte, dass es zur Beurteilung der Zinspolitik notwendig ist, ein neutrales Realzinsniveau zu identifizieren.
Solange der Leitzins über dem neutralen oder natürlichen Zins liegt, ist die Geldpolitik restriktiv, also konjunkturdämpfend. Expansiv oder konjunkturfördernd ist die Geldpolitik, wenn der Leitzins unter dem natürlichen Zins liegt.“
In seinem Buch „Geldzins und Güterpreise: Eine Studie über die den Tauschwert des Geldes bestimmenden Ursachen“ klingt es im Original bei Knut Wicksell so:
Die Idee von Knut Wicksell ist also relativ einfach. Er identifiziert Zinssenkungen als Gaspedal und Zinserhöhungen als Bremspedal. Wenn man beide Pedale genau richtig einstellt, dann hält das Auto die Geschwindigkeit und die Beschleunigung wäre null. So ist es auch bei der Wirtschaft. Solange die Zentralbank den Leitzins auf den natürlichen Zins setzt, bleiben die Preise stabil – die Inflationsrate liegt bei null.
Die Annahme im Hintergrund ist die, dass eine Zinssenkung die privaten Investitionen und damit die Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen erhöht. Die nächste Annahme ist die, dass sich Erhöhungen der Nachfrage in steigenden Preisen ausdrücken. Damit also die Theorie des natürlich Zinses funktioniert, sind mindestens zwei Annahmen nötig, die in der Realität erfüllt sein müssen:
- Eine Erhöhung der Zinsen führt zu einer Reduktion der privaten Investitionen und damit der Nachfrage.
- Ein derartiger Rückgang der Nachfrage führt zu einem Rückgang der Inflation, der relativ gleichmäßig verläuft.
Beide Annahmen sind in der Realität nicht unbedingt erfüllt. Wenn wie in den USA bei steigenden Zinsen die privaten Investitionen steigen (statt zu fallen), dann ist die ganze Theorie des natürlichen Zinses hinfällig, denn entweder gibt es dann keinen Zins, der zu einer Inflationsrate von null führt, oder mehrere (multiple Gleichgewichte). Aus makroökonomischer Sicht ist es so, dass die Inflation theoriegemäß dann null beträgt, wenn die Investitionen die Nachfragelücke (Differenz zwischen aktueller Nachfrage ohne Investitionen) und damit Angebot ausfüllt. Daher korrelieren in der Theorie Inflationslücke (Differenz der Inflation von der Zielinflation bzw. von null) und Outputlücke (Differenz zwischen tatsächlicher Produktion und Potentialproduktion).
Kein geringerer als John Maynard Keynes widerlegte in seiner Allgemeinen Theorie von 1936 die Idee des natürlichen Zinses. Zentraler Kritikpunkt war dabei die Annahme (oben in fett) einer aktuellen Nachfrage ohne Investitionen. Keynes wies darauf hin, dass bei hohen Staatsausgaben der natürliche Zins sehr viel höher sein müssen als bei niedrigen Staatsausgaben, da im ersten Fall die zu füllende Nachfragelücke sehr viel geringer sein würde. Keynes drückt das in der Allgemeinen Theorie in Kapitel 17 (V) so aus:
„In my Treatise on Money I defined what purported to be a unique rate of interest, which I called the natural rate of interest—namely, the rate of interest which, in the terminology of my Treatise, preserved equality between the rate of saving (as there defined) and the rate of investment. I believed this to be a development and clarification of Wicksell's 'natural rate of interest', which was, according to him, the rate which would preserve the stability of some, not quite clearly specified, price-level.
I had, however, overlooked the fact that in any given society there is, on this definition, a different natural rate of interest for each hypothetical level of employment. And, similarly, for every rate of interest there is a level of employment for which that rate is the 'natural' rate, in the sense that the system will be in equilibrium with that rate of interest and that level of employment. Thus it was a mistake to speak of the natural rate of interest or to suggest that the above definition would yield a unique value for the rate of interest irrespective of the level of employment. I had not then understood that, in certain conditions, the system could be in equilibrium with less than full employment.“
Es gibt also für jedes Beschäftigungsniveau einen „natürlichen“ Zins, was die Theorie unfruchtbar macht. Es gibt nicht einen einzigen natürlichen Zins, sondern ganz viele! Dieser Meinung ist auch Keynes:
„I am now no longer of the opinion that the concept of a 'natural' rate of interest, which previously seemed to me a most promising idea, has anything very useful or significant to contribute to our analysis. It is merely the rate of interest which will preserve the status quo; and, in general, we have no predominant interest in the status quo as such.
If there is any such rate of interest, which is unique and significant, it must be the rate which we might term the neutral rate of interest, namely, the natural rate in the above sense which is consistent with full employment, given the other parameters of the system; though this rate might be better described, perhaps, as the optimum rate.“
Keynes lehnt im weiteren Verlauf der Allgemeinen Theorie die Idee ab, dass man mithilfe der Geldpolitik die Wirtschaft steuern kann. In Kapitel 24 schreibt er:
„Furthermore, it seems unlikely that the influence of banking policy on the rate of interest will be sufficient by itself to determine an optimum rate of investment. I conceive, therefore, that a somewhat comprehensive socialisation of investment will prove the only means of securing an approximation to full employment;“
Die „einigermaßen umfassende Sozialisierung der Investitionen“ ist natürlich längst passiert: Der Staat investiert in Infrastruktur, ÖPNV, die Bahn, Wohnungsbau, etc.
Keynes hat also Wicksell mit seinem natürlichen Zins widerlegt, sowohl theoretisch wie auch empirisch und wirtschaftspolitisch. Es gibt überhaupt gar keinen Grund, das Konzept des natürlichen Zinses wieder aus der Kiste zu holen. Diese Theorie ist ein Zombie. Dass sich eine derartig unsinnige Theorie so lange halten konnte, hat wohl nur damit zu tun, dass unsere Wirtschaften über Jahrzehnte von Krisen ziemlich verschont blieben. Im Zeitalter der Polykrisen werden Zentralbanken mit derartiger Theorie die Wirtschaftspolitik unnötig verkomplizieren durch eigene Fehler. Der Zinsanstieg in der Folge des Energiepreisschocks war ein Fehler. Das sollte klar benannt werden.
Übrigens hatte auch Knut Wicksell sich kurz vor seinem Tod negativ über die Theorie des natürlichen Zinses geäußert. Bertil Ohlin schrieb bei der Vorstellung der Festschrift für Knut Wicksell, dieser hätte gesagt, dass die Theorie von zweifelhafter Gültigkeit („of doubtful validity“) wäre:
Die EZB sollte sich von der Theorie des natürlichen Zinses verabschieden. Sie hat genügend Schaden angerichtet. Alleine die Idee, eine Inflation könnte mit einer Erhöhung der Arbeitslosigkeit bekämpft werden, induziert durch eine Zinserhöhung, ist so haarsträubend problematisch für eine Gesellschaft, dass dringend eine neue Art der Inflationsbekämpfung her muss. Die Theorie des natürlichen Zinses ist empirisch falsch, sie ist theoretisch falsch und moralisch fragwürdig.
Die EZB sollte den Zins wieder Richtung null bewegen, damit keine leistungslosen Einkommen für die Besitzer von Staatsanleihen entstehen. Auf die Inflation wird die Zinsänderungen keinen großen Einfluss haben. Das haben schon die 2010er Jahre gezeigt. Wichtig ist die Fiskalpolitik.