Die europäische Wirtschaftspolitik ist dysfunktional - was nun?

21.06.2024

Geld- und Fiskalpolitik sollen die Volkswirtschaft stabilisieren und zu Vollbeschäftigung und Preisstabilität führen. Gemessen an diesen traditionellen Ansprüchen scheitert die EU aktuell grandios. Die wirkungslosen Zinserhöhungen der EZB haben die fiskalischen Defizite hochgetrieben, was nun in die Kürzungsfalle führt.

Lehrbücher in Makroökonomik gibt es viele. Was sie vereint, ist die Notwendigkeit von Wirtschaftspolitik zur Stabilisierung der Volkswirtschaft. Dazu stehen traditionell Geld- und Fiskalpolitik bereit, um auf den Konjunkturzyklus einzuwirken und sich nicht von ihm treiben zu lassen. Alle Lehrbücher der Makroökonomik bis auf eines sehen die Geldpolitik als zentrales Instrument an. Der Leitzins soll auf die Wirtschaft wirken, so dass sich die Inflationsrate steuern lässt. Die EZB schreibt dazu auf ihren Internetseiten (übersetzt mit DeepL):

„Durch die Anpassung ihrer Zinssätze kann die EZB zum Beispiel beeinflussen, wie teuer es für die Menschen ist, sich Geld zu leihen. Denken Sie an Geschäftsinhaber, die einen Bankkredit aufnehmen wollen, um ihr Geschäft auszubauen, oder an Menschen, die eine Hypothek aufnehmen wollen, um ein Haus zu kaufen. Indem sie beeinflusst, wie teuer es ist, sich Geld zu leihen, wirkt sich unsere Geldpolitik darauf aus, wie viel wir - als Verbraucher oder Eigentümer von Unternehmen - ausgeben und investieren. Dies wiederum wirkt sich auf die Kosten der Dinge aus. Indem wir also die Zinssätze ändern, können wir die Preise und die Inflation beeinflussen.“

Die Lehrbücher liefern dazu die passende Geschichte mit dem Wirkungskanälen Ersparnis und vor allem Investitionen. Bei höheren Zinsen lohnen sich einige Investitionen nicht mehr, und diese werden dann eingestampft. Die Nachfrage nach Arbeit und Gütern sinkt, was sich in niedrigerem Konsumentenpreis- und Lohnwachstum niederschlägt. Wie das ganze auf die Energiepreise wirken soll, die ja der Auslöser für die erhöhten Inflationsraten waren, wird nicht erklärt. Da die Energiepreise von Unternehmen wie Aramco (Saudi-Arabien) oder Gazprom (Russland) gesetzt werden, erscheint es illusorisch, dass in deren Prozess der Festlegung der Preise die Zinsen irgendeiner Zentralbank eingehen.

Insofern ist davon auszugehen, dass die durch steigende Energiepreise induzierten höheren Inflationsraten nicht durch höhere Zinsen bekämpft werden können. Ganz im Gegenteil: in Ländern mit hoher Staatsverschuldung wirken hohe Zinsen expansiv. So betragen die Zinsen auf die „Staatsschulden“ in den USA inzwischen über eine Billion US-Dollar. Dieses Geld findet den Weg in den Immobilienmarkt und treibt Hauspreise und Mieten hoch, was inflationär wirkt. Länder wie Japan, die in den 2020er Jahren beim Nullzins geblieben sind, haben den geringsten Preisschub erlebt (siehe Abbildung unten).

Eine Nebenwirkung hat die Geldpolitik der EZB jedoch schon. Und zwar steigen mit den Zinsen der Zentralbank auch die Zinsen der Staatsanleihen, die neu auf den Markt kommen. Warum? Weil die Banken ihr Geld sonst einfach in der Einlagefazilität halten würden. Darauf bekommen sie den Einlagezins, der aktuell bei 3,75 Prozent liegt. Wenn Staatsanleihen mit einem niedrigeren Zins auf den Markt kommen würden, wäre keine Bank bereit, diese zu kaufen. Daher bestimmt der Zentralbankzins auch immer den Zins der Staatsanleihen mit.

Folglich steigen also die Zinszahlungen der nationalen Regierungen in der Eurozone an. Da nur die neuen Staatsanleihen die höheren Zinsen bieten, erhöht dich die Zinslast nur sehr langsam. Allerdings gibt es einige Länder in der Eurozone, die eine relativ hohe Staatsverschuldung haben von mehr als 90 Prozent. Je nach der Struktur der Laufzeiten der Staatsanleihen kann es da auch schon mal vorkommen, dass die Zinszahlungen innerhalb eines Jahres deutlich zunehmen, so wie in Frankreich, wo nach Daten von AMECO die Zinszahlungen von 1,7 Prozent des BIP (2023) auf 2,1 Prozent des BIP ( 024) steigen. Diese 0,4 Prozent erhöhen das fiskalische Defizit der Franzosen, welches dieses Jahr um die 5 Prozent liegen soll.

So führen die höheren Zinsen der EZB, wirkungslos bei der Bekämpfung der Inflation, nun zu steigenden Staatsausgaben und tragen zu „exzessiven“ Defiziten bei, welche die EU-Kommission wohl mit sinkenden Staatsausgaben bestrafen wird. Aus makroökonomischer Sicht ist das schon skurril – von Vollbeschäftigung ist die Eurozone weit entfernt (6,4 Prozent Arbeitslosenquote), in Frankreich ist es ebenso (7,5 Prozent Arbeitslosenquote). Warum soll jetzt gekürzt werden? Das macht überhaupt gar keinen Sinn.

Die Inflationsrate in der Eurozone liegt bei 2,6 Prozent, Tendenz fallend. Die Produzentenpreise sind immer noch rückläufig, was sich in niedrigerer Inflation in den kommenden Monaten niederschlagen wird. In Frankreich beträgt die aktuelle Inflation 2,3 Prozent, für 2025 sagt die EU-Kommission 2,0 Prozent voraus. Wirtschaftspolitik sollte die Ziele Vollbeschäftigung und Preisstabilität anpeilen. Wenn sie das tut, dann darf aber in einer Situation von Massenarbeitslosigkeit bei geringer und fallender Inflationsrate (knapp über der Zielinflation von 2 Prozent) weder ein relativ hoher Zins durch die Zentralbank gesetzt werden noch eine Kürzung der Staatsausgaben veranlasst werden.

Die aktuelle Wirtschaftspolitik der Eurozone ist dysfunktional. Das ist schade, denn die Reaktion der europäischen Wirtschaftspolitik auf die Pandemie war absolut richtig und funktional. Die EZB legte ein Anleihenprogramm auf, die Defizitgrenzen wurden bis 2023 ausgesetzt. Die Staatsausgaben stiegen an, um die Pandemie zu bekämpfen und soziale Härten abzufedern. Dies führt zu mehr Beschäftigung in der Eurozone und einer wirtschaftlichen Erholung innerhalb kürzester Zeit. Warum dann die Wirtschaftspolitik wieder zu den alten Regeln zurückkehrte bleibt mir ein absolutes Rätsel. Es war doch klar, dass nach der Pandemie die staatlichen Defizite noch erhöht sein würden, ohne dass dies ein Grund für erhöhte Inflation sein würde.

Nun steht die EU-Kommission vor dem gleichen Problem wie schon Mitte der 2010er Jahre. Eine strikte Anwendung der Fiskalregeln würde zu einer Rezession, Depression oder Finanzkrise führen. Damals entschied sich die Kommission, die Regeln nur lasch anzuwenden und den „Defizitsündern“ keine Kürzungen der Staatsausgaben aufzudrücken. Defizitverfahren wurden teilweise gar nicht erst eingeleitet. Dies ist aber gerade passiert. Was nun? 

Die EU steht erneut vor einem wirtschaftspolitischen Scherbenhaufen und hat die Wahl, dysfunktionale Regeln anzuwenden und damit die Wirtschaft in die Rezession zu führen, oder sie erneut auszusetzen und damit zu zeigen, dass die neuen Fiskalregeln schon beim Stapellauf untergehen. Wahrscheinlich wird Brüssel auf Zeit spielen und hoffen, dass sich die EU über steigende Exporte irgendwie aus dieser misslichen Lage befreien kann, aber die letzten Zahlen geben wenig Anlass zur Hoffnung. Gerade im Automobilsektor sind die Chinesen stark und erobern immer mehr Anteile am Weltmarkt. In den letzten Jahren stiegen die Exporte der USA und Chinas schneller als die der EU. Die neue EU-Kommission steht gleich vor einer großen Herausforderung.