Die Fiskalregeln der EU: ein neuer Vorschlag

08.11.2023

Die spanische Regierung hat laut Table Media Europe einen neuen Vorschlag vorgelegt, um die dysfunktionalen Fiskalregeln der EU zu reformieren. Leider wagt man sich weiterhin nicht an eine wirkliche Reform. Es werden alte Mythen von der „Nachhaltigkeit der Staatsschulden” bemüht, statt Ziele wie Vollbeschäftigung oder Preisstabilität direkter anzugehen.

Die Fiskalregeln der Eurozone sind Teil des Stabilitäts- und Wachstumspaktes (SWP) aus dem Vertrag von Maastricht. Sie besagen, dass die staatlichen Defizite nicht über 3 Prozent des BIP liegen sollten – eine Überschreitung würde zu einem Defizitverfahren führen – und die staatliche Schuldenquote nicht über 60% des BIP (wobei Überschreitungen nicht bestraft werden). Seit 2020 ist die Ausstiegsklausel des SWP aktiviert, was bedeutet, dass bis Ende 2023 weder „exzessive” Defizite noch zu hohe Staatsschulden durch die EU-Kommission bestraft werden.

Das Aussetzen der Schönwetterregeln des SWP hat uns in der Pandemie vor Massenarbeitslosigkeit und mehr gerettet, denn hätte man die Regeln nicht ausgesetzt, wären die nationalen Regierungen gezwungen gewesen, mitten in der Pandemie die Ausgaben zu kürzen, u.a. für die Entwicklung von Impfstoffen, Krankenhäuser, Lohnfortzahlungen und Kurzarbeitergeld sowie andere Bereiche. Die EU bzw. die Eurozone hat aus den Fehlern der Austeritätspolitik der 2010er Jahre gelernt, so schien es, und die Ergebnisse gaben ihr recht. Die Arbeitslosenrate (der Eurozone) fiel schon kurz nach der Pandemie wieder auf den Wert von 2019, was damals nach der Globalen Finanzkrise (sprich: Immobilienkrise in den USA und in Irland und Spanien) fast ein Jahrzehnt dauerte.

Die steigenden Staatsausgaben hinterließen fiskalische Spuren, so brachen während der lock-downs die Steuereinnahmen zusammen und große fiskalische Defizite summierten sich, wie die folgende Abbildung zeigt. 2022 gab es noch einige Länder mit zu hohen Defiziten, z.B. Österreich, Spanien, Frankreich und Italien. Dabei lagen die Defizite teilweise bei deutlich mehr als 3 Prozent. Wie sollen die Regierungen ihre fiskalischen Defizite reduzieren?

Eine Reduktion der Staatsausgaben bringt es nicht, wie dieses Jahr selbst der IWF vermeldete. Eine Kürzung der Staatsausgaben reduziert halt auch die Steuereinnahmen, denn wenn ich Wirtschaftsakteuren Einkommen wegnehme, dann werden die ihre Ausgaben reduzieren, was wiederum die Steuerzahlungen reduziert. Vor diesem Hintergrund erscheint es spannend, einen Blick in den spanischen Vorschlag zu werfen.

Laut Table Media Europa besteht allerdings wenig Hoffnung, dass die Fiskalregeln auf eine vernünftige Art und Weise an die Realität angepasst werden:

Laut dem Dokument sollen für alle Mitgliedstaaten mehrjährige länderspezifische Haushalte erstellt werden, wie von der EU-Kommission vorgeschlagen. Diese sollen so ausgerichtet sein, dass sie über die Periode hinweg eine solide Budgetpolitik und einen glaubwürdigen Schuldenabbau gewährleisten. Darauf pocht vor allem der deutsche Finanzminister Christian Lindner. Dazu schlägt die spanische Präsidentschaft eine Reihe von flankierenden Schutzmaßnahmen vor, darunter zur Schuldentragfähigkeit, zum Mindestschuldenabbau und zum Schutz der Defizitresilienz.

Die Betonung von „solider Budgetpolitik“ und „glaubwürdigem Schuldenabbau“ zeigt, dass hier wesentliche makroökonomische Konzepte nicht verstanden sind. Eine Zahlungsunfähigkeit nationaler Regierungen in der Eurozone ist unmöglich, solange die EZB ihre Ankaufprogramme für Staatsanleihen fortsetzt. Das war eine Lektion aus der Pandemie. Der griechischen Regierung ging selbst bei einem Schuldenstand von mehr als 210% des BIP nicht das Geld aus, während 2010 schon eine Schuldenstand von 130% des BIP ausreichte, um Griechenland in die Zahlungsunfähigkeit zu treiben – wohlgemerkt, weil die EZB sich weigerte, griechische Staatsanleihen aufzukaufen und nicht, weil es einen Investorenstreik oder etwas ähnliches gab.

Es wäre nun an der Zeit, aus den wirtschaftspolitischen Erfahrungen der Pandemie zu lernen. Drei wesentliche Erkenntnisse drängen sich geradezu auf:

  1. Das Aussetzen der Defizitgrenzen des SWP war eine gute Idee. Die höheren Staatsausgaben und fiskalischen Defizite haben die Beschäftigung stabilisiert. Die Arbeitslosigkeitsquote in der Eurozone war noch nie so niedrig wie 2023. Das liegt nur an den steigenden Nettoinjektionen des Staates, der mehr Geld über Ausgaben in den Wirtschaftskreislauf pumpt und 2020 weniger Geld über Steuern herausgezogen hat. Der Versand von Schecks über 2.500$ bzw. € wie in den USA zur Ankurbelung der Wirtschaft war so nicht notwendig, wobei einige Programme für mehr Staatsausgaben in den USA durchaus auch hier Sinn gemacht hätten (Stichwort: Inflation Reduction Act).
  2. Die EZB hat mit dem Pandemic Emergency Purchase Program (PEPP) auch offiziell die Rolle als permanenter Dealer of Last Resort (DoLR) angenommen. Durch ihre Ankäufe wissen die Investoren, dass Staatsanleihen der nationalen Regierungen der Eurozone sicher sind, denn sie können sie immer an die EZB verkaufen. Damit wäre sichergestellt, dass eine Zahlungsunfähigkeit ausgeschlossen ist. Somit müssten „solide Budgetpolitik“ neu definiert werden (mit Blick auf die verfügbaren Ressourcen und ihre alternativen Verwendungen) und ein „glaubwürdiger Schuldenabbau“ wäre eventuell gar nicht sinnvoll, denn dieser entzieht dem nicht-staatlichen Sektor Kaufkraft in Höhe von Milliarden Euro (weil Steuerzahlungen über Staatsausgaben liegen).
  3. Die Idee, dass höhere Zinsen Inflation bekämpfen, ist praktisch nicht mehr zu halten. In den USA haben höhere Staatsausgaben bei steigenden Zinsen zu Rekordbeschäftigung geführt und einem sehr deutlichen Anwachsen der privaten Investitionen (crowding-in). Auch in der Eurozone haben steigenden Zinsen nicht in die Rezession geführt – sofern diese überhaupt noch kommt, ist sie wohl eher auf sinkende Staatsausgaben zurückzuführen. Die Ökonomen wie Larry Summers, die vor etwas mehr als einem Jahr behaupteten, dass eine geringere Inflationsrate nur mit höherer Arbeitslosigkeit erkauft werden könnte, lagen falsch. Ein Anstieg der Beschäftigung war mit einem Rückgang der Inflation verbunden. Der Zins ist also kein zentrales Instrument der Wirtschaftspolitik, mit dem sich Preisstabilität und Vollbeschäftigung erreichen lassen (so wie das der Neukeynesianismus behauptet).

Der spanische Vorschlag ist also „more of the same”, eine Neuauflage von Ideen, die bereits in der Vergangenheit nicht in die Praxis umgesetzt werden konnten. Hätten wir den SWP mit den Defizitgrenzen 2020 nicht ausgesetzt, wäre die europäische Wirtschaft den Bach runtergegangen. Derartige Schönwetterregeln sind nicht geeignet, um den vielfältigen wirtschaftspolitischen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu begegnen. 

Der erste Satz der Wirtschaftspolitik lautet: „First, do no harm” (Als erstes, richte keinen Schaden an). Die weitere Fokussierung auf die Kürzung der staatlichen Ausgaben zur vermeintlichen Reduktion der Staatsschulden ist kontraproduktiv und wird im „muddling through” der EU sicherlich dazu führen, dass bei den ersten Anzeichen einer Krise die Regeln erneut ausgesetzt werden. In diese Richtung ist dann auch ein politischer Kuhhandel zu erwarten. Die Regeln sind weiterhin „deutsch“, werden aber nicht durchgesetzt bzw. durch politische Deals in Hinterzimmern in Brüssel ausgehebelt. Verlierer sind die EuropäerInnen, denn diese Regeln werden weder ein Mehr an Stabilität noch ein Mehr an Wachstum erzeugen und ebensowenig Vollbeschäftigung wie Preisstabilität produzieren – von nachhaltiger Nutzung der Ressourcen ganz zu Schweigen.