Ein bisschen unschöne europäische Arithmetik

30.01.2024

Die geplante Reform der Fiskalregeln in der EU geht davon aus, dass Staaten ihre Schulden abbauen, indem sie jahrelang fiskalische Überschüsse einfahren. Anscheinend ist niemandem bewusst, dass die entsprechenden privaten Defizite die Wirtschaft in die Rezession führen werden.

1981 veröffentlichten Sargent und Wallace ihren Artikel „Some Unpleasant Monetarist Arithmetic“, in dem es um die Frage geht, ob die Zentralbank über den Zins die Inflationsrate kontrollieren könne. Die Idee, mithilfe der Arithmetik Aussagen über Wirtschaft und Wirtschaftspolitik zu machen, möchte ich hier aufgreifen. Konkret geht es um die Reformvorschläge für das fiskalischen Rahmenwerk in der EU.

Politico schreibt dazu (Übersetzung durch DeepL):

„Die Finanzminister einigten sich darauf, dass Länder mit einer Schuldenquote von über 90 Prozent des BIP die Quote innerhalb eines Zeitrahmens von vier oder fünf Jahren, der auf sieben Jahre ausgedehnt werden kann, um durchschnittlich 1 Prozent pro Jahr senken sollen. Für Länder mit einer Schuldenquote zwischen 60 und 90 Prozent soll stattdessen eine niedrigere Anpassungsrate von 0,5 Prozent gelten.

Zu Beginn eines jeden Zyklus wird die Kommission für jedes Mitgliedsland ein Ausgabenprogramm - den so genannten Nettoausgabenpfad - aufstellen, um sicherzustellen, dass die EU-Ziele am Ende des Zeitraums erreicht werden. Dieser Plan ist auf jedes Land zugeschnitten und basiert auf strukturellen Faktoren wie langfristigen Wachstumsschätzungen und erwarteten demografischen Veränderungen.

Der Umfang der Haushaltsanpassung im Rahmen des Defizitverfahrens wird immer über das hinausgehen, was normalerweise von den EU-Ländern erwartet wird, sagte ein EU-Beamter, der eng in das Verfahren involviert ist und nicht autorisiert war, sich offiziell zu äußern.“

Die EU möchte also, dass die Mitgliedsstaaten fiskalische Überschüsse von einem Prozent einfahren, bis ihre Staatsverschuldung 90 Prozent des BIP erreicht. Danach sollten es 0,5 Prozent bis 60 sein. Überschüsse des Staates sind die Folge von Steuereinnahmen, die über den Staatsausgaben liegen. Das bedeutet gleichzeitig Defizite für den nicht-staatlichen Sektor, denn dieser zahlt mehr an Steuern an den Staat als es über Staatsausgaben an Einnahmen erzielt. Diese relativ einfache Arithmetik wirft die Frage auf, was mit der Wirtschaft passiert, wenn die finanzielle Netto-Ersparnis des nicht-staatlichen Sektor auf Jahre und Jahrzehnte negativ sein wird. So lange wird es in einigen Ländern wie Griechenland, Italien, Portugal, Frankreich oder Spanien wohl dauern, bis 90 bzw. 60 Prozent erreicht sein.

Griechenland hatte 2022 eine Staatsverschuldung von etwa 170 Prozent, bräuchte also bei einer Reduktion von einem Prozentpunkt des BIP jährlich 80 (!) Jahre bis zum Erreichen der 90 Prozent (Dies ist eine vereinfachte Rechnung, die den Anstieg des BIP und Zinsdynamiken nicht berücksichtigt). Italien würde „nur“ 50 Jahre brauchen, Portugal und Frankreich etwas mehr als 20 Jahre. Kann eine Wirtschaft eine derart lange Periode von fiskalischen Überschüssen des Staates und entsprechenden Defiziten beim nicht-staatlichen Sektor durchhalten?

Der nicht-staatliche Sektor besteht aus dem privaten Sektor im Inland und dem Rest der Welt. Ein Überschuss des staatlichen Sektors könnte also durch ein Defizit des privaten Sektors (der mehr ausgibt als er einnimmt, indem er entspart und/oder sich verschuldet) ausgeglichen werden oder durch ein Defizit des Restes der Welt (der mehr von unseren Gütern aus der EU kauft ans wir von seinen Gütern). Ein Leistungsbilanzüberschuss der EU ist schwierig, da der Euro einen flexiblen Wechselkurs hat. Ist der Euro schwach, wird wohl mehr exportiert und weniger importiert. Aber was ist, wenn der Euro wieder aufwertet? Dann werden europäische Güter im Ausland teurer und Importe aus dem Nicht-EU-Ausland billiger.

Es bleibt also nur noch der private Sektor, welcher aus Haushalten und Firmen besteht. Dieser verzeichnet aber normalerweise keine Defizite, weil weder Haushalten noch Firmen gerne mehr ausgeben als sie einnehmen. Das ist im Kapitalismus auch so gewünscht, unsere Institutionen sind danach ausgerichtet, dass sich nur verschuldet, wer auch zurückzahlen kann.

Die Abbildung ganz oben im Artikel stammt von Wynne Godley. Sie zeigt die Entwicklung der finanziellen Nettoverschuldung des privaten Sektors in Japan, im UK, in Finnland und den USA. Es sind explizit Perioden ausgesucht worden, in denen der private Sektor ein Defizit verzeichnet. Die Abbildung macht deutlich, dass diese Situationen nie sehr lange angehalten haben. Immer gab es eine Rückkehr zu privaten Überschüssen, sehr wahrscheinlich ausgelöst durch Rezessionen. Wenn die Wirtschaft einbricht, zahlen die Privaten weniger Steuern und empfangen mehr Staatsausgaben (z.B. über die Arbeitslosenversicherung). Der Staat bekommt quasi ein Defizit aufgezwungen. Das ist letztlich auch nur logisch, denn der private Sektor kann seine Verschuldung nicht unendlich ausweiten. Irgendwann muss er Verschuldung tilgen, und dann fließt Geld nicht mehr in die Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen, sondern in die Schuldentilgung.

Von daher verwundert es, dass sich auf Ebene der EU eine Reform anbahnt, die durch ein bisschen unschöne europäische Arithmetik als praktisch undurchführbar erscheint. Noch haben die Abgeordneten des Europäischen Parlaments Zeit, die Reform zu stoppen. Das wäre wohl eine gute Idee. Da am 9.6.2024 Europawahlen sind, sollte sich das neue Parlament an der Reform der Fiskalregeln versuchen. So wird es wahrscheinlicher, dass alte Zöpfe abgeschnitten werden. Der jüngste Erfolg der Wirtschaftspolitik in der EU war die Reaktion auf die Pandemie, und dabei wurden die Fiskalregeln der EU ausgesetzt. Das sollte doch ein Grund sein, über das Dogma der „Nachhaltigkeit der Staatsverschuldung“ gründlich nachzudenken. Kleiner Tipp: Die EZB sorgt mit ihren Ankaufprogrammen dafür, dass eine Zahlungsunfähigkeit bei nationalen Regierungen der Eurozone nicht eintreten kann. Mit der Höhe der Staatsverschuldung, Zinsen und Wachstumsraten hat das offensichtlich gar nichts zu tun.