Ludwig Erhard über die Staatsfinanzierung
Ludwig Erhard beschäftigt sich in einer Denkschrift von 1943/44 mit dem Thema „Kriegsfinanzierung und Schuldenkonsolidierung”. Seine Aussagen passen zu den Thesen, die heute von der Modern Monetary Theory vertreten wird.
Die Denkschrift aus dem Propyläen-Verlag von 1997 kommt sehr seriös daher. Ein Foto von Ludwig Erhard mit Zigarre, ein Gleitwort von Bundeskanzler Helmut Kohl – die Leserschaft darf gespannt sein. Zur Frage der „sozialen Marktwirtschaft“ findet sich nicht viel, mein Interesse lag bei der Lektüre eher im Bereich der Staatsfinanzierung. Daher möchte ich einige Stellen der Denkschrift aufgreifen und diskutieren. Los geht es mit der Seite 36/37 und Erläuterungen zu den Staatsausgaben:
„Der gesamte Finanzbedarf des Staates ist nicht etwa abhängig von einem imaginären Kapitalfonds, noch sind dem Staate hinsichtlich der zusätzlichen Kreditschöpfung nach der formalen Seite hin irgendwelche Grenzen gesetzt. Diese Grenzen bestimmt in materieller Hinsicht ausschließlich die Produktivität der Wirtschaft in Ansehung und unter Berücksichtigung der Einschränkungen des zivilen Versorgungssektors.“
Erhard erkennt hier, dass der Staat Ausgaben in beliebiger Höhe tätigen kann. Begrenzt sind die Ausgaben durch die Produktivität der Wirtschaft, mit anderen Worten, durch die in der Wirtschaft vorhandenen Ressourcen bzw. die Güter und Dienstleistungen, die damit produziert werden. Im Krieg muss die zivile Versorgung gewährleistet sein, aber darüber hinaus kann sich der Staat theoretisch aneignen. Der „imaginäre Kapitalfonds“ ist Erhards Ausdruck für die neoklassische Idee eines begrenzten Kapitalangebots, welches verliehen werden kann. Wenn der Staat sich mehr Kapital leiht, dann steigt der Zins, weil die Nachfrage nach Kapital höher ist. Es kommt dadurch zum „crowding out” von privaten Unternehmen auf der finanziellen Ebene, weil der Staat den Unternehmen das Kapital wegnimmt. Das ist aber in der Realität nicht der Fall, wie Erhard richtig erkennt. Hinzufügen möchte ich noch, dass Staat und private Unternehmen um knappe Ressourcen konkurrieren können, aber nur auf der realen Ebene, nicht auf der finanziellen.
Auf S. 47/48 schreibt Erhard weiter:
„In Bezug auf diese Erscheinung [ständige Kreditexpansion] besteht vom rein ökonomischen Standpunkt keine Entschluss- und Entscheidungsfreiheit, denn wann auch immer diese zusätzliche Kaufkraftschöpfung unerwünschte preispolitische Wirkungen zeitigt, so sind diese eben als eine unvermeidliche und notwendige Folge des Krieges hinzunehmen. Es gilt dabei nur die kritische Grenze zu beachten, die dort liegt, wo mangels wirtschaftlicher Voraussetzungen durch zusätzlichen Einsatz von Finanzmitteln keine Ausweitung der Produktionsanlagen oder der Produktionsleistungen mehr zu erreichen ist.“
Mit anderen Worten: Wenn der Staat im Krieg etwas braucht, zahlt er jeden Preis und kann das jederzeit. Sollten dadurch Preise steigen, ist das eine „Folge des Krieges“. Nur kann die Regierung mit ihrem Geld nichts kaufen, was sich nicht produzieren lässt. Dies ist logisch analog zur der Aussage der MMT, dass bei Knappheit der Güter die staatlichen Ausgaben dazu führen können, dass Preise steigen. Solche Flaschenhälse auf der Angebotsseite können nach der MMT schon vor Erreichen der Vollbeschäftigung dazu führen, dass die Inflationsrate ansteigt.
Auf S. 144 heißt es:
„[E]ine „fehlerfreie” Staatswirtschaft aber, mag sie auch vom Standpunkt den Individuen nie mangelhaft der unzulänglich empfunden werden, ist aber trotz dieses scheinbaren Widerspruchs grundsätzlich doch denkbar oder konstruierbar, sofern nur der Staat mit äußerster Konsequenz die Struktur der güterwirtschaftlichen Nachfrage mit der güterwirtschaftlichen Zusammensetzung des Sozialprodukts, mit welchen Mitteln auch immer, in Übereinstimmung zu bringen vermag.“
Das klingt sehr stark nach keynesianischer Wirtschaftspolitik. Der Staat sollte dafür sorgen, dass die gesamtwirtschaftliche Nachfrage in Übereinstimmung mit dem Sozialprodukt ist. Wenn also die Ausgaben in der Wirtschaft gerade so hoch sind, dass alle Güter und Dienstleistungen gekauft werden können zu den aktuellen Preisen, dann haben wir eine „fehlerfreie Staatswirtschaft”. Heute würden wir sagen: Dann haben wir die makroökonomischen Instrumente bestmöglichst eingesetzt.
Auf S. 231/232 geht es um die Geldpolitik:
„Der nach liberaler Auffassung wirksame Anreiz eines niedrigen Zinssatzes reichte jedenfalls immer weniger zur Entfachung der erforderlichen Unternehmerinitiative aus. Die den Kreditbanken in den Grenzen ihrer Liquidität gegebene Möglichkeit der zusätzlichen Kreditschöpfung konnte praktisch nicht ausgenutzt werden, wenn der Unternehmer befürchten musste, dass eine wirtschaftliche Verwertung dieser Mittel nicht zu erwarten steht, und so kam es denn notwendig dahin, dass die Verantwortung für das wirtschaftliche Schicksal des Landes dem Staate überbürdet wurde.“
Mit heutigen Worten: Der niedrige Zins reicht nicht aus, um die Nachfrage zu erhöhen, denn die Unternehmen können zusätzliche Produktion nicht absetzen. Damit der Absatz steigt, muss der Staat mehr Geld ausgeben – dieser trägt also die „Verantwortung für das wirtschaftliche Schicksal des Landes“. Dies ist gerade im Hinblick auf das heutige Versagen der Geldpolitik eine sehr interessante Stelle.
Weiter auf S. 232 heißt es dann:
„Wenn man z.B. die von den demokratischen Regierungen von 1929-1933 zur Anwendung gebrachten wirtschaftlichen Belebungsmaßnahmen auf solche Empfehlungen hin untersucht, so ist zwar das Bemühen, auf diese Weise eine stärkere Aktivierung der Wirtschaft herbeizuführen, unverkennbar, aber der ängstliche Einsatz völlig unzureichender Mittel musste angesichts der Schwere der Krise nutzlos verpuffen.“
Erhard erklärt also hier indirekt den Aufstieg Hitlers mit einem Versagen der deutschen Wirtschaftspolitik, so wie es gerade auch Nikolaus Kowall im Wirtschaftsdienst beschrieben hat. Auf S. 239 legt Erhard nochmal nach:
„Hier zeigte sich nun besonders in der letzten schweren Krise der Jahre 1929-1933, dass kreditpolitische Hilfen zur Belebung der Wirtschaft auf der gesamten breite der Erzeugung nicht mehr ausreichen und dass wagemutigen Unternehmern, die vereinzelt ohne gesicherten Absatz ihre Produktion ausweiteten, der Erfolg versagt blieb.“
Geldpolitik ist also in einer Rezession wirkungslos. Unternehmen, die trotz schwacher Nachfrage die Produktion hochhalten, werden später am Markt bestraft. Logische Konsequenz: der Staat müsse die gesamtwirtschaftliche Nachfrage steuern. Erhard auf S. 243 und S. 264:
„Es ist auf Grund der letzten Erfahrungen naheliegend, zunächst wieder an die Möglichkeit der staatlichen Wirtschaftsbelebung zu denken, umsomehr gesamtwirtschaftliche Kollektivaufgaben im größten Ausmasse vorliegen.“
„Die Stellung des Staates in der künftigen Wirtschaft fest zu verankern, wird darum eines der bedeutsamsten der zu lösenden Probleme ausmachen.”
Auf S. 235 geht es um die Rolle von Steuern und Anleihen:
„[D]ie Regierung war weder geneigt, ihr vorgefasstes Aufrüstungsprogramm aufzugeben, noch war sie in der Lage (oder aus psychologischen Gründen auch willens), diesem sehr erheblichen Aufwand durch echte Kaufkraftabschöpfung (Steuern oder echte Anleihen) zu decken.“
Auch diese Aussagen sind deckungsgleich mit der MMT, wo Steuern und Anleihen nicht den Staat finanzieren, sondern „nur” die Kaufkraft reduzieren. Weder bei Erhard noch bei MMT bedeutet dies übrigens, dass Inflation mithilfe von höheren Steuersätzen oder höheren Steuereinnahmen bekämpft werden *sollte*. Allerdings ist es nicht von der Hand zu weisen, dass Steuern wie auch Anleihen den Inflationsdruck reduzieren, weil sie Kaufkraft im privaten Sektor vernichten. (Aktuell ist allerdings die Inflation nicht die Folge zu hoher Kaufkraft im privaten Sektor, daher argumentiert auch die MMT nicht für Steuererhöhungen.)
Insgesamt zeigen diese Aussagen, die sämtlich in Widerspruch zu den allermeisten aktuell benutzten Lehrbüchern der Makroökonomik stehen, dass die Ideen von Ludwig Erhard sich heute bei der Modern Moonetary Theory (MMT) finden lassen. Hier eine kurze Zusammenfassung diese hier vorgestellten Ideen:
- Der Staat kann so viel Geld ausgeben, wie er für nötig hält (siehe Sondervermögen aus 2022 für Bundeswehr und Gaspreisdeckel).
- Geldpolitik funktioniert nicht, wenn die Nachfrage schwächelt (siehe 2010er Jahre mit Nullzinspolitik, aber geringen Inflationsraten).
- Der Staat ist verantwortlich für die Wirtschaftspolitik (Preisstabilität und Vollbeschäftigung; siehe Aufkaufprogramm der EZB und Kurzarbeitergeld in der Pandemie).
- Die Weimarer Republik scheiterte in der Großen Depression, weil die Staatsausgaben nicht erhöht wurden – dies brachte die Nazis an die Macht. (Die Austeritätspolitik der 2010er Jahre in der EU war katastrophal und hat ebenfalls schwere politische Verwerfungen ausgelöst.)
- Steuern und Staatsanleihen entziehen dem privaten Sektor Kaufkraft, sie dienen nicht der „Staatsfinanzierung” (Stichwort: Sondervermögen - es gab keine dazugehörige Steuer und keine Emission von Staatsanleihen).