Mario Draghi fordert radikalen Wandel

18.04.2024

Mario Draghi sprach am 16. April in Brüssel bei der High-level Conference on the European Pillar of Social Rights. Er fordert radikalen Wandel. Wie stellt er sich diesen vor?

Mario Draghi hat eine Rede gehalten, die sehr interessant ist. Im folgenden werde ich einige Zitate herausstellen und diskutieren. (Die Übersetzung erfolgte mithilfe von DeepL.)

„1994 bezeichnete der angehende Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger Paul Krugman die Konzentration auf die Wettbewerbsfähigkeit als eine "gefährliche Obsession". Sein Argument war, dass langfristiges Wachstum durch Produktivitätssteigerungen entsteht, die allen zugute kommen, und nicht durch den Versuch, die eigene relative Position gegenüber anderen zu verbessern und deren Anteil am Wachstum abzuschöpfen.“

Der Artikel von 1994 von Paul Krugman hieß „Competitiveness: A Dangerous Obsession“ und es ging um die Europäische Union:

Gehen wir zurück zu der Rede von Draghi:

„Der Ansatz, den wir in Europa nach der Staatsschuldenkrise in Bezug auf die Wettbewerbsfähigkeit verfolgten, schien seinen Standpunkt zu bestätigen. Wir verfolgten eine bewusste Strategie, um die Lohnkosten im Verhältnis zueinander zu senken - und in Kombination mit einer prozyklischen Fiskalpolitik war der Nettoeffekt nur, dass unsere eigene Binnennachfrage geschwächt und unser Sozialmodell untergraben wurde.

Das Hauptproblem ist jedoch nicht, dass die Wettbewerbsfähigkeit ein fehlerhaftes Konzept ist. Es geht darum, dass Europa den falschen Schwerpunkt gesetzt hat.“

Draghi sagt hier sehr deutlich, dass die Austeritätspolitik der Kürzungen von Staatsausgaben und Löhnen in der Folge der „Staatsschuldenkrise“ von 2010 (eine politische Konstruktion, um von den riesigen Immobilien- und Finanzmarktkrise von 2008/09 abzulenken) falsch war („den falschen Schwerpunkt gesetzt“ ist sehr diplomatisch formuliert). Er sagt allerdings auch, dass „Wettbewerbsfähigkeit“ kein fehlerhaftes Konzept ist. Er ist also nicht einverstanden mit dem Text von Krugman von 1994.

Draghi beschwert sich im weiteren Text, dass die anderen Länder nicht nach den Regeln spielen würden und wir in Europa statt auf interne Wettbewerbsfähigkeit viel stärker auf externe Wettbewerbsfähigkeit hätten achten müssen. Draghi folgert:

„Ohne strategisch konzipierte und koordinierte politische Maßnahmen ist es logisch, dass einige unserer Industrien Kapazitäten abbauen oder in Länder außerhalb der EU verlagern werden.

Und uns fehlt eine Strategie, die sicherstellt, dass wir über die Ressourcen und Inputs verfügen, die wir brauchen, um unsere Ziele zu erreichen, ohne unsere Abhängigkeiten zu vergrößern.“

Draghi identifiziert im weiteren Text drei Themen:

  1. Steigende Skalenerträge ermöglichen.
  2. Öffentliche Güter bereitstellen.
  3. Angebot von wichtigen Ressourcen und Inputs „zuhause“.

Er endet mit einem Aufruf, die Integration Europas entscheidend voranzutreiben:

„Unsere Konkurrenten überholen uns, weil sie wie ein einziges Land mit einer einzigen Strategie agieren und alle erforderlichen Instrumente und Maßnahmen darauf abstimmen können.

Wenn wir mit ihnen mithalten wollen, brauchen wir eine erneuerte Partnerschaft zwischen den Mitgliedstaaten - eine Neudefinition unserer Union, die nicht weniger ehrgeizig ist als das, was die Gründerväter vor 70 Jahren mit der Schaffung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl getan haben.“

Wie bereits gesagt, basieren diese Einsichten vor allem auf der von Draghi vertretenen Idee, dass Wettbewerbsfähigkeit ein entscheidender Punkt ist für die Europäische Wirtschaft.

Schauen wir kurz in den Text von Paul Krugman, um die Gegenposition zu verstehen:

Krugman schreibt, dass der Lebensstandard mit der Produktivität wachsen würde, nicht mit der Wettbewerbsfähigkeit. In der folgenden Abbildung sehen wir den Zusammenhang zwischen BIP und Produktivität sowie dem Handelsbilanzüberschuss bzw. -defizit als Variable für die Wettbewerbsfähigkeit (für die USA). Produktivität und BIP wachsen zusammen (blau und rot, links), während der Anteil der Nettoexporte (grün, rechts) von positiv auf negativ dreht (1970er) und später sogar auf stark negativ (90er/2000er). Die sinkende internationale Wettbewerbsfähigkeit, die hinter dem Anstieg der Nettoimporte steckt, hat den Anstieg der Produktivität und des BIP nicht aufgehalten.

Aus Sicht der MMT wäre noch hinzuzufügen, dass es die Wohlfahrt der US-Amerikaner erhöht, wenn sie billige Konsumgüter aus dem Ausland bekommen können über ihre Exporte hinaus. So können sie mehr konsumieren, als sie produziert haben. Der Rest der Welt dafür bekommt dafür US-Dollar. Solange diese gespart werden, sind die USA in einer sehr komfortablen Position. Selbst wenn sie ausgegeben werden, ist das nicht nicht schlimm, denn dann steigt die Nachfrage nach Exporten aus den USA und die US-Wirtschaft würden brummen!

Paul Krugman beendet seinen Artikel mit einer deutlichen Warnung: 

Den Preis für die Ignoranz der politischen Eliten, und zu der zählt der ehemalige Goldman & Sachs-Banker und ehemalige Präsident der EZB, zahlen wir, die europäische Gesellschaft. Wenn die politischen Eliten in Deutschland und Europa weiterhin dem Rattenfänger Mario Draghi folgen, dann werden die wirklichen ökonomischen Probleme ausgeblendet, weil sie bei den von der Wettbewerbsfähigkeit Besessenen keine Rolle spielen. Verfallene Infrastruktur? Egal. Steigende Kinderarmut? Macht nichts. CO2-Ausstoß steigt? Irrelevant. Massenarbeitslosigkeit? Gut, dass drückt das Lohnwachsstum.

Immerhin ist Draghi ehrlich und bezeichnet seine Forderungen als „radikalen Wandel“. In seinem Paradigma der internationalen Wettbewerbsfähigkeit kommen die Sorgen und Nöte, die Probleme und Ängste der Beschäftigten nicht vor. Die Beschäftigten müssen sich im globalen Spiel um Absatzmärkte unterordnen, sie sind Teil einer Maschine und nicht selbst das wichtigste Puzzlestück der Gesellschaft als Bürger.

Realistisch gesehen kann die Eurozone dieses Spiel nicht „gewinnen“. Sollten die Exporte deutlich wachsen, dann bedeutet dies für die Europäer, dass sie deutlich mehr produzieren als sie konsumieren, denn die Differenz der beiden ist ja der Export von Gütern und Dienstleistungen. Dies geht aber nur dann, wenn die Löhne relativ sinken. Damit werden die meisten von uns zu Verlierern, wenn Europa das Spiel „Internationale Wettbewerbsfähigkeit“ gewinnt.

Sollte der Rest der Welt tatsächlich deutlich mehr Exporte aus Europa kaufen, wird der Preis des Euro steigen, denn mit diesem werden die Exporte durch den Rest der Welt bezahlt. Wertet aber der Euro auf, dann sinkt die Wettbewerbsfähigkeit, weil dann europäische Produkte im Ausland teurer werden und ausländische Produkte im Inland billiger (wir nehmen an, dass Wechselkursveränderungen auf einheimische Preise durchschlagen). Die Unternehmen werden sicherlich mit Verweis auf die verlorene Wettbewerbsfähigkeit Lohnkürzungen fordern. Und somit beginnt das Spiel von vorne. Das Paradigma der internationalen Wettbewerbsfähigkeit kennt nur einen Gewinner: die Unternehmen und ihre Besitzer. Und der Verlierer sind immer die Arbeitskräfte.

In der Realität ist so eine Strategie zum Scheitern verurteilt, denn ein Absenken der Löhne schwächt die Wirtschaft. Die Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen sinkt relativ zu vorher, die Produktion schwächelt, es entstehen Massenarbeitslosigkeit und Armut, weil die Niedriglöhne nicht mehr zum Leben reichen. Es ist daher zu hoffen, dass die europäische Öffentlichkeit sich sehr kritisch mit dieser Rede Draghis auseinandersetzt und andere Prioritäten wählt als die, durch Lohnzurückhaltung die selbst produzierten Güter und Dienstleistungen möglichst günstig an Menschen im Ausland zu verkaufen. Abgesehen von den eigenen Wohlfahrtsverlusten würde eine solche Politik von China und den USA sicherlich nicht akzeptiert werden.

Die Rede von Draghi enthält einige wichtige Punkte, um die wir uns tatsächlich Gedanken machen sollten. Dabei geht es um die Frage, wie wir konkrete gesellschaftliche und wirtschaftliche Ziele erreichen, z.B. die Transformation hin zu einer nachhaltigen Wirtschaft. Wenn wir diese Punkte als Ziele sehen würden und die Wettbewerbsfähgkeit ausblenden würden, wären wir schon auf einem ganz guten Weg.