Verfahren bei einem übermäßigen Defizit gegen sieben Länder
Ende Juli hat der Rat der EU Defizitverfahren gegen sieben Länder angestrengt. Diese lagen mit ihren fiskalischen Defiziten, der Differenz zwischen Staatsausgaben und Steuereinnahmen, über den erlaubten drei Prozent des BIP. Wie es weitergeht, ist noch offen.
Der Rat der Europäischen Union berichtete Ende Juli auf seinen Webseiten:
„Der Rat hat heute Beschlüsse über das Bestehen übermäßiger Defizite in Belgien, Frankreich, Italien, Malta, Polen, der Slowakei und Ungarn angenommen. Ferner hat der Rat festgestellt, dass Rumänien, das seit 2020 Gegenstand eines Verfahrens bei einem übermäßigen Defizit ist, keine wirksamen Maßnahmen zur Korrektur seines Defizits ergriffen hat, und dass das Verfahren daher fortgesetzt werden sollte.
Mit dem defizitbasierten Verfahren bei einem übermäßigen Defizit soll sichergestellt werden, dass alle Mitgliedstaaten zur Haushaltsdisziplin zurückkehren oder diese aufrechterhalten und übermäßige Defizite vermeiden. Letztendlich besteht das Ziel darin, eine niedrige Staatsverschuldung aufrechtzuerhalten oder einen hohen Schuldenstand auf ein tragfähiges Niveau zu senken.
Die Mitgliedstaaten müssen die Haushaltsdisziplin auf die in den EU-Verträgen verankerten Kriterien und Referenzwerte ausrichten: Ihr Defizit sollte 3 % ihres Bruttoinlandsprodukts (BIP) nicht übersteigen, und ihr Schuldenstand sollte 60 % ihres BIP nicht übersteigen. Alle Mitgliedstaaten müssen diese Referenzwerte der Verträge einhalten.“
Das “Verfahren bei einem übermäßigen Defizit“ ist eigentlich dazu da, die Staatsausgaben der Länder Eurozone zu begrenzen. Es wurde befürchtet, dass ohne ein solches Regelwerk eine nationale Regierung auf die Idee kommen könnte, einfach ihre Ausgaben zu erhöhen, um so Beschäftigung und Wachstum zu erzeugen sowie (indirekt) Investitionen in (nachhaltige) Infrastruktur und soziale Gerechtigkeit (durch höhere Sozialausgaben). Dies ist die Folge davon, dass es sich beim Euro um eine gemeinsame Währung handelt. Alle Länder können über ihre Zentralbanken Euros erzeugen. Seitdem die EZB als „dealer of last resort“ agiert, gibt es auch keine technische Grenze für die Staatsausgaben mehr. Eine Zahlungsunfähigkeit wie damals (2010) in Griechenland ist somit ausgeschlossen.
Die große Frage ist nur, ob die Fiskalregeln funktionieren. In den 2010er Jahren wurden sie angewendet, was zu Austeritätspolitik führte. Die Kürzungen der Staatsausgaben treiben die europäische Wirtschaft dort in den Abgrund, wo sie angewendet wurde. Italien und Griechenland haben daher noch heute ein BIP, welches unter dem von 2007 (vor der Finanzkrise von 2008/09) liegt. Ab 2014 wurden die Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspaktes dann nicht mehr angewendet bzw. die EU ließ Gnade walten und bestrafte nur selten Mitgliedsstaaten (z.B. 2019 nur Rumänien, während 9 andere Länder davon kamen). Die jüngste Reform der Fiskalregeln änderte leider nicht viel an der Gesamtsituation, gerade auch weil Länder wie Spanien mit ihren Vorschlägen nicht zum Kern des Problems vordrangen.
Ein großes Problem ist die makroökonomische Situation. Die nationalen Regierungen mit den „übermäßigen“ Defiziten können als Reaktion ihre Staatsausgaben reduzieren, ihre Steuern erhöhen oder beides. Dabei haben sie aber weder die komplette Kontrolle über die Staatsausgaben noch über die Steuereinnahmen. Sollte die Wirtschaft in eine Rezession abstürzen, dann brechen auch die Steuereinnahmen ein und die Staatsausgaben steigen (aufgrund der Arbeitslosigkeit). Dabei ist es generell so, dass eine Kürzung der Ausgaben des Staates zu einer Kürzung der Einnahmen von Haushalten und Unternehmen führt. Diese werden dann auch weniger Steuern zahlen. Das sieht sogar der IWF so, wie ich auf meinem Blog schrieb.
Sollten also Länder wie Italien, Frankreich und Belgien gleichzeitig ihre Staatsausgaben kürzen, dann wird das die Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen in der Eurozone treffen. Weniger Absatz bedeutet weniger Produktion, was wiederum zu mehr Arbeitslosigkeit und weniger Steuerzahlungen führt. So werden sich weder fiskalische Defizite noch „Staatsschulden“ reduzieren lassen. Der Rat der EU sollte also die Länder darauf drängen, ihr Defizit über Steuererhöhungen zu reduzieren. Dabei sollten gerade die Steuern genutzt werden, die nicht auf den Konsum durchschlagen. Gut wäre also eine höhere Erbschaftssteuer oder eine (höhere) Vermögenssteuer. Keine gute Idee hingegen wäre eine Erhöhung der Mehrwertsteuer, weil dies den Konsum der sozial Schwächeren trifft.
Es steht allerdings zu befürchten, dass Steuererhöhungen von der jeweiligen nationalen Regierung abgelehnt werden, weil die politische Macht der davon betroffenen gesellschaftlichen Gruppen (Vermögende, Erbende, etc.) sehr groß ist. Dann blieben nur noch zwei Alternativen. Entweder senken die Regierungen ihre Staatsausgaben und hoffen, dass irgendwo anders in der europäischen oder Weltwirtschaft die Ausgaben so steigen, dass es überkompensiert wird. Oder sie signalisieren den nationalen Regierungen, dass diese über staatliche Investitionen zukünftig mehr Steuern generieren können und können so eine Erhöhung der Staatsausgaben akzeptieren, die trotzdem zukünftig das Defizit verringert. Oder aber die Regeln werden mehr oder weniger ausgesetzt, Anpassungspläne werden diskutiert und kommentiert, aber ohne Strafen auszusprechen.
Wie geht es weiter? Die EU-Kommission wird ihre Empfehlungen voraussichtlich im November vorlegen, gleichzeitig mit dem Herbstpaket des Europäischen Semesters.